Harry Potter verzaubert Wissenschaftler

Experten suchen nach literarischem Erfolgsrezept

Wolfenbüttel
Die Kurzformel für einen geradezu wunderbaren literarischen Erfolg lautet „Harry Potter“. Weltweit haben die ersten vier Bände über Joanne K. Rowlings pfiffigen Zauberlehrling rund 40 Millionen Käufer und noch mehr jugendliche wie erwachsene Leser gefunden. Selbst in China fliegt bald ein „Hali Bote“ durch die Lüfte. Wie können wir diese Potter-Manie erklären?
Potterexperten haben am vergangenen Wochenende [= Ende September 2000] versucht, dieses Geheimnis zu ergründen. Die Bundesakademie für kulturelle Bildung Wolfenbüttel hatte dafür zur ersten bundesweiten Harry-Potter-Tagung eingeladen. In welcher literarischen Tradition stehen Rowlings zauberhafte Geschichten? Welche Mythen und Fakten gehen bei Potter und seiner Autorin magisch ineinander über? Befriedigt Harry nur Sehnsüchte nach Zauber in einer entzauberten Welt? Darum kreisten die Referate, die aus kindertherapeutischer, didaktischer, literaturkritischer und literaturwissenschaftlicher Sicht das „Phänomen Potter“ beleuchteten.
Von besonderem Interesse waren darüber hinaus die „Einblicke ins Potter-Marketing“ die Klaus Kämpfe-Burghardt den Teilnehmerinnen und Teilnehmern aus Deutschland und der Schweiz eröffnete.
„Das Marketing hat aus Potter keinen Star gemacht“, meinte der kaufmännische Geschäftsführer des Carlsen-Verlags, bei dem Potter erscheint. Carlsen habe diesen Star lediglich „begleitet“. Das Potter-Fieber zieht erst ab Band drei größere Kreise. Für Carlsen sieht das konkret so aus: Sechs Monate nach Erscheinen von Band eins „Harry Potter und der Stein der Weisen“, waren rund 25 000 Exemplare verkauft – schon das ein exzellentes Ergebnis für ein Kinder- und Jugendbuch. Nachdem im August 1999 der dritte Band der Potter-Serie erschienen war, explodierten die Verkaufszahlen. Bis Ende 1999 gingen mehr als eine halbe Million der Zauberer-Romane über die Ladentheke.
Ähnliche Trends waren auf der Potter-Homepage von Carlsen zu beobachten. Im September 1999 stellte der Verlag die Website ins Netz und verzeichnete im Startmonat knapp 5000 Besucher. Im August 2000 griffen eine Million, im September gar fünf Millionen Menschen auf www.harrypotter.de zu. Trauriger Nebeneffekt solch eminenter Nachfrage: Rechtsradikale nutzten den Potter-Chat, um ihre Parolen zu verbreiten. „Wir mussten den Chatroom leider schließen“, bedauerte Kämpfe-Burghardt. In Kürze gebe es aber einen moderierten Chat, der Potter-Fans vor dem Missbrauch ihres Forums schützt.
40 Millionen verkaufter Potter-Bücher lassen sich nicht allein mit ausgefuchstem Marketing oder literarischer Qualität erklären. Vieles bleibt trotz der ertragreichen Expertentagung an der Bundesakademie in Wolfenbüttel – so wunderbar wie die Geschichten um den armen, zauberhaften Waisenknaben aus dem Ligusterweg 4. Warum aber lesen so viele Menschen Harry Potter? Vielleicht verbindet sie der Wunsch, einmal vom Gleis 9 3/4 die schnöde Wirklichkeit verlassen zu können. Oder ist es der kleine Harry in uns allen, der geheime Wunsch nach Glück?

Olaf Kutzmutz, Westfälische Nachrichten vom 03.10.2000

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