Golden Jubilee week: 07.06.2002 (Freitag): Vom Stall zum Palast

Morgens steht bei mir nach langer Zeit ein Besuch bei Mme Tussauds auf demProgramm. Inzwischen beläuft sich der Eintrittspreis auf 16.50 £. Dank meinerTraveller Card bekomme ich einen großzügigen Nachlass von 0,50 £. Heute istdas Spiel England gegen Argentinien. Und ich hatte gehofft, dass dadurch etwasleerer wäre, aber es sind natürlich nicht Briten die das weltberühmteWachsfigurenkabinett besuchen und so ist es voll wie immer. Ansonsten scheintsich so viel nicht geändert zu haben: Helmut Kohl ist weggeräumt worden,dafür steht jetzt Schröder da (wie lange noch?). Diana steht nicht mehr beiden Royals, sondern zwischen internationalen Prominenten. Hitler stehtüberraschenderweise nicht mehr am Eingang zum Horror-Kabinett. Zum Schluss gehtes auf einer Art Geisterbahn in "The Spirit of London" durch London imLaufe der Jahrhunderte.
Ein Besuch im Planetarium nebenan – vor ein paar Jahren stieg man auf einenneuen digitalen Projektor um – lohnt sich meiner Meinung nach nicht unbedingt.Die Show unterscheidet sich von der Qualität nicht sonderlich von denen andererPlanetarien, zum Beispiel dem in Münster.
Von der Bond Street aus fahre ich mit der U-Bahn nach High Street Kensington. Von dort aus gehe zur Sheffield Terrace. Hier – in diesem vornehmen Viertel – lebte Agatha Christie. Im letzten Jahr wurde ihr Haus mit einer blauen Plakette versehen (zahlreiche Häuser, in denen einmal berühmte Personen lebten, sind in London mit blauen Plaketten gekennzeichnet). In ihrem Memoiren schreibt Agatha Christie, dass sie in No. 48 gelebt hätte. Bei den Recherchen vor der Anbringung der Plakette stellte man allerdings fest, dass es das Haus No. 58 war. Wieder ein Rätsel der Queen of Crime!
Nach einem kurzen Imbiss in der Buckingham Palace Road besichtige ich dieRoyal Mews. Für 5  £ kann man einen Blick auf die königlichen Ställe(angelegt von John Nash) mit ihren edlen Pferden werfen. Außerdem sind dieaufwendigen Kutschen, z.B. die irische Kutsche, die zu Parlamentseröffnungenoder die Glaskutsche, die bei Hochzeiten genutzt wird, zu sehen. Höhepunkt istdie Golden State Coach von 1762, die für George III. entworfen wurde und beiKrönungen eingesetzt wird. Erst Dienstag ist sie beim Golden Jubilee gebrauchtworden. Die Fahrt in der Kutsche muss recht unangenehm sein. GeorgeV. verglich es mit einem Schiff auf rauer See, Queen Victoria weigertesie sich glatt zu benutzen. Vor dem Silver Jubilee hat man dann in die Kutscheein paar Gummidämpfungen eingebaut. Die neueste Kutsche stammt aus Australienund wurde zur 200-Jahr-Feier des Kontinents der Queen spendiert. Alle Kutschen -einschließlich das spezielle Pferdegeschirr – werden ständig akribischgepflegt und instandgesetzt. Außerdem erhält man in den Mews Informationen zummotorisierten Fuhrpark der Queen bestehend aus diversen Rolls Royce (TypPhantom) und Daimlern. Man erfährt, dass im Gegensatz zu den Lenkern derKutschen auf den Uniformen der Fahrern keine Rangabzeichen zu finden sind, dieQueen aber trotzdem immer vom Hauptchauffeur oder seinem Vertreter gefahrenwird, die anderen Royals sich aber auch mit Junior drivers begnügen müssen.Ich hole mir mein Taschenmesser wieder ab, das ich beim Betreten der Royals Mewshatte abgeben müssen. Man muss nämlich wie am Flughafen durch einenMetalldetektor.
Nun gehe ein Stück weiter in Richtung Buckingham Palace zur Queen’s Gallery. Hier steht schon eine Schlange vor der Tür. Anscheinend haben sie alle bereitsTickets. Ich werde auf einen livrierten Herrn aufmerksam, der nach dem Aussehender Butler der Queen sein könnte und der gerade im Gespräch mit einerTouristin ist. Ich begebe mich in seine Richtung, um ihn zu fragen, wo manTickets bekommt. Er entdeckt mich und sagt zu der Frau, die auf ihn einredet:"Entschuldigen Sie mich, ich muss mich jetzt um den Herrn kümmern."Ich frage ihn, wie es mit Tickets aussieht. Er klärt mich auf, dass für heutegerade noch fünf Karten zu haben sein, Einlasszeit sei 16.30 Uhr, ob das oksei. Ich sage ja und frage, wo ich die Karten kaufen könne. Er ist sofreundlich, mich zum Ticketschalter zu begleiten. Ich kaufe eine Karte (6.50£). Als an dem livrierten Herrn vorbeikomme, fragt er noch, ob ich eine Kartebekommen hätte und verabschiedet sich bis später.
Ich nutze die Zeit, um das Wellington Museum im Apsley House zu besichtigen, das direkt hinter dem riesigen Reiterdenkmal und dem Wellington Arch liegt. Hier wohnte der "Eiserne Herzog". Im Eintrittspreis (4.50 £) ist die Benutzung eines Audiogeräts, das einem die Räumlichkeiten auch auf Deutsch erläutert. Das Haus wurde 1771 bis 1778 von Robert Adam erbaut. Nach seinem Sieg bei Waterloo kaufte Wellington das Haus und ließ es total umbauen: es wurde mit Bath-Stein neu verblendet, die berühmte Waterloo-Galerie angebaut, ebenso ein Portikus, um die Symmetrie zu erhalten. Das Haus ist auch als "No. 1 London" bekannt, weil es lange Zeit das erste Haus war, weil es das erste Haus an der früheren Londoner Stadtgrenze war. Das Haus wurde nach dem Krieg von der Familie dem Staat vermacht, die Herzöge haben aber im Haus noch Wohnrecht, d.h. einige Räume sind der Öffentlichkeit nicht zugänglich. Ich besichtige den China und Plate Room, wo unter anderem das umfangreiche Service ausgestellt ist, das der Preußische König Wellington schenkte, ebenso das Ägyptische Service. In der Waterloo Gallery im Obergeschoss fand alljährlich das Waterloo Dinner zusammen, bei dem der Herzog mit seinen Kriegsgefährten tafelte. Der Tafelaufsatz, ein Geschenk des Königs von Portugal, ist im Dining Room zu sehen. Die Ausstellung macht auch den Charakter Wellingtons deutlich: den Rummel um seine Person und die Ehrungen scheint er recht genossen zu haben. Seine Frau lernte er bereits als junger Mann kennen. Da er – als vierter Sohn – aber nicht genügend Geld hatten, durfte er sie nicht heiraten. Als er sie Jahre später nach seinen ersten Erfolgen als Offizier wiedersah, stand er zu seinem Wort und heiratete sie, obwohl sie – wie er seinem Bruder anvertraute – inzwischen total hässlich sei. Als sie starb, wachte er am Bett. Seine Zeit als Premierminister war weniger glücklich als die Zeit als Kriegsherr. In seiner kurzen Amtszeit wurden zwar die Katholiken emanzipiert, doch stand er einer Ausweitung des Wahlrechts auf die armen Schichten ablehnend gegenüber. Seine Gegen warfen 1832 (kurz nach dem Tod seiner Frau) Scheiben im Apsley House ein. Daraufhin ließ er eiserne Fensterläden anbringen und bekam den Spitznamen "Iron duke".
Ich muss mich mit meiner Besichtigung von Apsley House schon fast beeilen, weil ich um 16.30 Uhr meinen Termin in der Queen’s Gallery habe. Als ich die Galerie betrete, werde ich von dem livrierten Herrn mit "Welcome back" gegrüßt. Am Eingang muss ich mein Pocket Knife wieder zurücklassen. Aus ihrer gewaltigen Sammlung hat die Queen aus Anlass ihres Thronjubiläums einige der schönsten und wertvollsten Stücke ausgewählt. Auch wertvolle Möbel, Vasen und Porzellan ist ausgestellt. Ebenso das neueste Porträt der Königin von Lucian Freund. Gott sei Dank ist es so klein, dass das hässliche Bild nicht sofort ins Auge fällt. 
Um 17.30 Uhr schließt die Queen’s Gallery schon. Ich sammele mein Taschenmesser wieder ein und fahre zurück ins Wynfrid House. Dort bleibe ich aber nicht lange, sondern fahre zum Tower Hill. Dort beginnt um 19.30 Uhr eine Walking Tour mit dem Titel "Jack the Ripper haunts". Am Tower Hill hat sich schon eine größere Menschenmenge versammelt, überwiegend Amerikaner. Donald, der Führer, echt englisch in einen grünen Wachsmantel gehüllt, verkauft bereits signierte Ausgaben seines Buches über den Ripper. Um 19.30 Uhr wird die Gruppe aufgeteilt. Die überwiegende Mehrheit bleibt aber bei Don – auch ich. Don hat einen kleinen Hocker mitgebracht, so dass er uns besser mit seiner Stimme erreichen kann. "He knows his stuff", meint jemand hinter mir. Tatsächlich: Opfer, Tatzeit, Tathergang kann er nur so abspulen. Man erfährt auch viele Hintergrunddetails. "Sie haben sicher alle die Filme über Jack the Ripper gesehen. Wo die Opfer immer eines gemeinsam hatten: sie waren wahnsinnig hübsch, ganz jung, vornehm gekleidet, tanzten auf Tischen in einem Lokal und sangen ‚Oh, wie schön ist es, eine East-End-Prostituierte zu sein‘. Die Wirklichkeit sah ganz anders aus: East-End-Prostituierte waren über 40, ihnen fehlten Zähne, sie hatten zerlumpte Kleiner an und lebten meist auf der Straße." Er erläutert, dass die Grenze zwischen der City of London, wo die London City Police zuständig ist und des Großraum Londons, wo die Metropolitan Police zuständig ist, durch das East End läuft. Das machte die Ermittlungsarbeit schwierig, da die Leiter der jeweiligen Polizeibereiche eifersüchtig darüber wachten, dass die andere Polizeieinheit nicht ihr Territorium verletzten. Aber eine Frage oder eigentlich zwei Fragen kann auch Don nicht beantworten: Wer war Jack the Ripper wirklich und warum hörte die Mordserie plötzlich auf? Das East End ist auch heute noch nicht das beste Viertel. Don erzählt uns, dass er häufig bei seinen Erläuterungen unterbrochen würde: von Leuten, die er freundliche Alkoholiker nennten möchte: einige meinten, sie wüssten mehr über den Ripper, einige imitierten ihn hinter dem Rücken, andere liefen plötzlich Zickzack. Doch heute sind die Störungen anderer Art. England hat am frühen Nachmittag den alten Falkland-Gegner Argentinien mit 1:0 besiegt – zum ersten Mal seit 1986. Ausgerechnet der "dumme Junge" von 1998 David Beckham hat das Tor erzielt. Das muss spätestens am Abend im Pup begossen werden. So tönt es uns ständig entgegen: "Vergesst Jack the Ripper", "Der Ripper hat kein einziges Tor geschossen" und so weiter. Don bedankt sich höflich für jede einzelne Bemerkung. Um 21 Uhr ist die Führung an der Liverpool Station beendet. Und damit geht es zurück ins Wynfrid House.
Die Fotos zur Reise finden Sie in meinem Fotoalbum

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